Wieso Fluchtgeschichten?

21. 01. 2019

Wieso Fluchtgeschichten?

von Lajos Fischer und Gaby Heilinger

Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss unterschied zwischen "kalten" Gesellschaften, die ihre Strukturen einfrieren wollen und "geschichtslos" bleiben möchten, und "heißen", die "ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung" haben, hierbei ihrer eigenen Innovationskraft vertrauen und ihre "verinnerlichte Vergangenheit ... zum Motor ihrer Entwicklung machen". Auf dieser Grundlage führte Jan Assmann in seiner Studie über "Das kulturelle Gedächtnis" die Begriffe "kalte und heiße Erinnerung" ein. Die alte Bundesrepublik machte die "heiße Erinnerung" an die Zeit des Nationalsozialismus und an die Schoah tatsächlich zum Motor der demokratischen Entwicklung. Mit Jürgen Habermas' Formulierung gesagt, haben die Deutschen dabei "den aufrechten Gang" eingeübt.
Bei diesem Prozess fiel den Zeitzeugen eine herausragende Rolle zu: Sie sorgten dafür, dass durch das Erzählen ihrer persönlichen Erinnerungen, die objektives Wissen mit subjektiven Emotionen verbanden, die Erinnerung "heiß" blieb und dass das "Nie-Wieder" in der politischen Kultur eine Selbstverständlichkeit darstellte. Aus den Forschungen des Nobelpreisträgers Robert Shiller wissen wir, welchen mächtigen Einfluss Geschichten, die sich in der Gesellschaft durchsetzen, auf Wirtschaft, Politik und Kultur haben können! Nun leben nur noch einige wenige Zeugen, die die mahnende Erinnerung "heiß" halten können. Prompt treten politische Kräfte auf die Bühne, die eine andere Geschichte erzählen wollen, eine Geschichte, die Europa und die Welt bereits einmal in die Katastrophe führte.
"Es wird heute Tag für Tag offensichtlicher, dass wir in außergewöhnlichen Zeiten leben - in Zeiten also, in denen die Entscheidungen, die wir in den kommenden Jahren fällen werden, darüber bestimmen, ob sich unheilvolles Chaos Bahn bricht, ob unsägliche Grausamkeit losgetreten wird; und ob die liberale Demokratie, ein System, das mehr zur Verbreitung von Frieden und Wohlstand geleistet hat als jedes andere in der Geschichte der Menschheit, überleben wird", schrieb der junge in München geborene Harvard-Dozent Yascha Mounk in seiner 2018 erschienenen Analyse. Wie diese Entscheidungen ausfallen werden, hängt sehr stark auch davon ab, welches Narrativ, welche Geschichten sich durchsetzen werden. 
In Deutschland leben viele Menschen, die Krieg, Elend, Unterdrückung, Diktatur hautnah erlebt haben oder in ihrem Herkunftsland keine Möglichkeiten zur Entfaltung eines menschenwürdigen Lebens sahen; denen es aber gelang, all das hinter sich zu lassen und hier ein neues Leben anzufangen. Sie können ihre Erinnerungen, die objektives Wissen mit subjektiven Emotionen verbinden, erzählen. Sie können jedoch auch darüber berichten, wie schwierig es ist, in einem fremden Land Wurzeln zu schlagen. Sie können auch leidenschaftlich schildern, warum ein Zurück in die alten Verhältnisse für sie unvorstellbar ist und warum ihnen das Leben in einer Demokratie einen unschätzbaren Wert darstellt.
Wir haben angefangen, die Geschichten dieser Menschen in Kempten und im Allgäu zu sammeln und hier öffentlich zu machen. Genauso wie es bei den Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges der Fall war, sind die Meisten noch nicht soweit, das Erlebte selber in der Öffentlichkeit zu erzählen oder sie müssten einige wichtige Details weglassen. Deswegen haben wir uns dafür entschieden, die vom Redaktionsteam aufgezeichneten Berichte anonym zu veröffentlichen, um die Menschen dahinter zu schützen. Wir wollen zum Narrativ einer vielseitigen Stadt, unserer Stadt, einen Beitrag leisten. Wir hoffen auch, dass diese Geschichten Menschen berühren und bewegen und in ihnen Emotionen auslösen, im Sinne von Hartmut Rosa, der meint: "Ich möchte die These vertreten, dass die Flüchtlinge unsere vielleicht letzte große Chance darstellen, die Entfremdung zu überwinden, der Versteinerung zu entgehen und noch einmal jung zu werden. ... Mit und in ihnen begegnet uns die Stimme eines Fremden und Anderen, das uns dazu bringen kann, die eigene Stimme wieder wahrzunehmen, zum Ausdruck zu bringen uns hörend und zugleich antwortend zu transformieren." (Mittelweg 36, 2/2017)
Der Dresdner Theologe Franz Richter stellte im Januar 2018 in der Sächsischen Zeitung fest: "Zwei Voraussetzungen für eine offene, demokratische Gesellschaft sind Empathie und Perspektivenwechsel. Es soll eine Lust und keine Last sein, sich in andere Menschen hineinzuversetzen." In diesem Zusammenhang lohnt es sich einen Blick in die weite Vergangenheit zu werfen:
Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron im 18. Jahrhundert war der erste, der entdeckte, dass die Menschheit Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus an mehreren Orten der Welt gleichzeitig einen gewaltigen Entwicklungsschritt durchmachte. Karl Jaspers gab dieser Epoche den Namen "Achsenzeit". Jan Assmann (2018) und vor allem Karen Armstrong (2006) heben es in ihren großartigen Monografien hervor, dass Empathie damals zu einem der wichtigsten Maßstäbe der Spiritualität, der menschliche Moral und zur Grundlage der großen Weltreligionen sowie der griechischen Philosophie wurde. Nehmen wir als Beispiel "Die Perser" von Aischylos: Acht Jahre, nachdem 480 vor Christus die Perser Athen geplündert, niedergebrannt und im Anschluss eine tödliche Niederlage in der Seeschlacht bei Salamis erlitten hatten, führte der griechische Dramatiker in Athen seine Tragödie auf, die die Schlacht aus der Sicht der Perser sehen ließ. "Erst ein paar Jahre zuvor hatten die Perser ihre Stadt in Schutt und Asche gelegt und ihre heiligen Stätten entweiht, und doch konnten sie jetzt um die persischen Toten weinen", schreibt Armstrong. 
Warum muss uns Franz Richter zweieinhalb Jahrtausende später daran erinnern? Ist uns diese grundlegende menschliche Fähigkeit in der "Gesellschaft der Singularitäten" (Andreas Reckwitz) abhanden gekommen? Melanie Mühl widmet der Fragestellung ein ganzes Buch ("Mitfühlen", 2018) und beklagt den "Niedergang des Mitgefühls, die soziale Verrohung", den vorherrschenden "unversöhnlichen, polemischen Ton" und stellt fest: "Mitgefühl ist die Grundlage einer gelingenden sozialen Kultur. Sie ist das Bindemittel. Ohne Mitgefühl kein Miteinander." Amos Oz erzählt in seinem Essay "Liebe Fanatiker" die Geschichte vom israelischen Schriftsteller Sami Michael mit einem Taxifahrer, der bei ihm mit fanatischer Begeisterung für die Tötung von Arabern warb und wie es dem Schriftsteller gelang, mit einer persönlichen Geschichte das Mitgefühl des Fahrers zu mobilisieren und seine Überzeugung ins Wanken zu bringen. Genau das wollen wir hier auch erreichen: Die hinter den Statistiken der Nachrichten steckenden Schicksale sollen auf unseren Seiten persönlich erlebbar werden, damit "das Bindemittel" unseres sozialen Miteinanders wieder besser wirkt.
Wir brauchen eine "humane Weltinnenpolitik" (Andreas Reckwitz), weil auf der nationalen Ebene die großen Probleme unserer Zeit heute nicht mehr gelöst werden können. Zu diesen zählt die globale Migration mit ihren vielfältigen Ursachen. Mit den damit verbundenen Leiden müssen wir uns genauso intensiv auseinandersetzen, wie wir es mit den Leiden durch die Weltkriege oder durch den Rassismus getan haben und tun. James Baldwin, einer der großen Vorkämpfer gegen Rassismus und Ausgrenzung nennt auch den Grund:  "Denn solange das Ungesagte nicht gesagt wird, leben wir im Schatten eines bedrohlich hallenden Schweigens."
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