Anständige Gesellschaft

Gedanken über eine anständige Gesellschaft

von Abdulrahman Alshalaby 

In einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft wird mit Recht die Forderung erhoben: Es müssten alle Kulturen, ihre Traditionen und Lebensarten gleichwertig und mit gleicher Aufmerksamkeit behandelt und gewürdigt werden. Erst dann könne statt von Assimilation und Ausgrenzung von Integration und Teilhabe gesprochen werden. Diese Auffassung vertreten viele, die Weltoffenheit und Diversität per se gutheißen. Für sie ist diese Sichtweise so selbstverständlich, dass man diese ihrer Meinung nach gar nicht weiter thematisieren müsste.
In diesem Beitrag möchte ich folgende grundsätzliche Frage stellen: Darf es in einer pluralistischen Gesellschaft eine dominante Kultur geben? Wenn ja, was wäre zu unternehmen, dass alle Menschen, egal welcher Kultur, sich dieser zugehörig fühlen oder zuordnen, ohne dass ihre Grundrechte und Teilhabechancen verletzt werden.
Zunächst möchte ich an die kontrovers geführte „Leitkultur“ - Debatte erinnern, bei der es auch um die Frage geht, ob man in Deutschland eine Art „Leitkultur“ brauche, um das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen zu gewährleisten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt herstellen zu können. Viele Vertreter*innen des links-liberalen Paradigmas wettern vehement dagegen und verweisen alsbald auf das Grundgesetz, dieses stelle nämlich die Grundlage unseres Zusammenlebens und eine Richtschnur unseres Handelns dar und reiche völlig aus („Verfassungspatriotismus“). Dieser Position, da ich das Grundgesetz in seiner Wirkmächtigkeit für heilig, in seiner normativen Sprache für vollkommen erachte, vermag ich nichts entgegenzustellen. Andererseits nehmen Konservative gerne für sich in Anspruch, das bewahren zu wollen, was schon immer gilt. Diese Haltung wiederum scheint mir, wiewohl ich sie nicht teilen möchte, gleichsam plausibel, denn ich finde vieles, was heute in Deutschland faktisch gegeben ist, durchaus bewahrenswert. Nun geht es hierbei nicht darum, den Konservatismus oder Liberalismus, was auch immer diese sein mögen, zu definieren oder gar miteinander zu vergleichen, vielmehr möchte diese umstrittene Frage, ob ein pluralistisches Gesellschaftsmodell die Existenz einer dominanten Kultur zulässt, zum Thema machen.
Folgt man der soziologischen Annahme, dass moderne Gesellschaften funktional differenziert sind, das heißt, dass es Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung, Wissenschaft und Religion gibt, die sich wiederum je nach Aufgabenbereich bzw. Funktionen unterscheiden, so muss man die Bedeutung des Bildungssystems besonders hervorheben, da unsere Sozialisation größtenteils dadurch erfolgt, sei dies an Schulen, Ausbildungsstätten oder auch an Universitäten. Eine genaue Betrachtung des Bildungssystems in seiner Struktur führt zweifelsohne dazu, dass sich die eingangs gestellte Frage ziemlich schnell erübrigen kann. Denn allein in den Selektionskriterien der Curricula, wie sie an Schulen und Universitäten unterrichtet werden, ist eine eindrucksvolle Antwort zu finden.

Es steht schon außer Frage, dass Aristoteles, Kant oder Machiavelli weniger Erhellendes zur Geschlechterfrage gesagt haben dürften, als Simone de Beauvoir oder Judith Butler, die an deutschen Schulen und Universitäten nach wie vor kaum beachtet werden. Außer Zweifel steht genauso die Tatsache, dass Hannah Arendt und Emmanuel Levinas in der politischen Ethik hierzulande, verglichen mit Thomas von Aquin, nur marginale Berücksichtigung finden. Daran kann man beispielhaft verdeutlichen, welchen Einflüssen unser Bildungssystem immer noch unterworfen ist.
Macht dieses Beispiel deutlich, dass sich das links-liberale Paradigma, wenn es das Faktum, dass es eine gesellschaftlich dominante Kultur gibt, negiert, in die eigene Tasche lügt? Ist die deutsche Gesellschaft wirklich kulturell neutral?

Nein, das ist sie beileibe nicht, denn in Deutschland wird eine Sprache gesprochen, ohne deren Beherrschung die beruflichen Perspektiven enorm sinken. Im Geschichtsunterricht werden Traditionen, Ereignisse und Sachverhalte behandelt, die kulturell gebunden sind und in anderen Kulturkontexten weder nachvollziehbar noch bedeutsam wären. Zudem ist der Zugang zu gesellschaftlichen Informationen und Teilhabe nicht nur auf sprachliche Verständigung angewiesen, sondern von kulturellen Signalsystemen abhängig. Dies ist der Art der Berichterstattung und Gewichtung dessen, was berichtenswert sei, unschwer zu entnehmen. Auch die Leseart historischer Vorkommnisse ist keineswegs kulturell neutral, vielmehr von einer Perspektive beherrscht, die sich aus einem bestimmten kulturellen Denk- und Interpretationsmuster speist. Mithin besteht wahrlich eine gesellschaftlich dominante Kultur, die zwar nicht schematisch oder statisch ist, aber auch nicht geschichtslos existiert. Diese ist primär einer geschichtlichen Tradition verhaftet und in jeder Facette unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens beheimatet. Ohne eine bereits vorhandene gesellschaftliche Kultur wäre übrigens die Integration gegenstandslos, weil sich die Frage danach: Wohin möchte man sich integrieren, in diesem Sinne nicht mehr stellen müsste. So ist die dominante Stellung einer Kultur dadurch gesichert, dass sie unseren Handlungen, Praktiken und Weltsichten innewohnt, ohne dass uns dies immer bewusst wäre.
Nun stellt sich die Frage: Wie soll ein sozialer Zusammenhalt in einer Gesellschaft hergestellt werden, in der eine der vielen Kulturen eine derartige Dominanz besitzt? Auf eine ähnlich geartete Frage hin entwirft der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit seine Vorstellung von einer „anständigen und nicht-demütigenden Gesellschaft“, in der die dominante Stellung einer Kultur wohl besteht, aber nicht dazu genutzt werden darf, dass andere Kulturen, mit denen sich besondere Gruppen und Minderheiten identifizieren, in ihren Grundrechten angetastet werden. Keine Gruppe darf, so Margalit, als minderwertig eingestuft oder verächtlich gemacht werden. „Eine anständige und nicht-demütigende Gesellschaft“ darf keine institutionelle Form der Demütigung zulassen. Eine solche Gesellschaft zeichnet sich überdies dadurch aus, dass sie den institutionellen Rahmen bereithält, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse und ihr Recht auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe verwirklichen können. Jede Selbstbestimmung und jede gleichberechtigte Teilhabe, so Margalit, findet allerdings ihre Grenze dort, wo sie die freie Entfaltung eines anderen Menschen behindert bzw. erschwert. 
Eine entscheidende Bedingung für die gleichberechtigte Teilhabe ist die Selbstachtung. Nach John Rawls ist die Selbstachtung an zweierlei Bedingungen geknüpft: Zum einen gehört zu ihr das Selbstwertgefühl, die feste Überzeugung, dass die eigene Vorstellung vom guten Leben, der eigene Lebensplan, wert ist, realisiert zu werden. Zum zweiten gehört zur Selbstachtung ein Vertrauen in die Fähigkeit, die persönliche Lebensführung nach eigenen Kriterien verwirklichen zu können. Dieses Vertrauen kann durch äußere Demütigungen und Erniedrigungen nachhaltig beeinträchtigt werden. So muss eine anständige und nicht-demütigende Gesellschaft in jedem Fall derartige Situationen verhindern und soziale Verhältnisse vermeiden, die die Selbstachtung, wie sie eben dargelegt ist, unterminieren und Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechtes demütigen bzw. diskriminieren. An dieser Stelle sollte man sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob kopftuchtragende Mädchen in ihrer Selbstachtung verletzt werden, wenn manche Vertreter*innen politischer Institutionen sie in eine vorurteilbelastete Schublade stecken. Weiterhin sollte man tatsächlich darüber nachdenken, ob Geflüchtete es als demütigend empfinden, wenn mancher Minister vom Gastrecht schwadroniert, das von Großzügigkeit und Gnädigkeit des aufnehmenden Staates abhängig sei, und dabei bewusst außer Acht lässt, dass das Asylrecht im Prinzip keine Wohltätigkeit darstellt, sondern ein vom Grundgesetz garantiertes Recht, dem gesellschaftliche Institutionen verpflichtet sind. Ferner sollte die Frage gestellt werden, ob die statistische Kategorisierung von „Menschen mit Migrationshintergrund“, die institutionell fortwährend praktiziert wird und für die Selbstachtung vieler Betroffenen sehr schädigende Auswirkungen haben kann, noch sinnvoll bzw. aufrechtzuerhalten ist, da sie die Defizite in den Mittelpunkt hebt und nicht etwa die damit verbundenen Potenziale und Chancen. Wäre der Begriff „mehrsprachige Menschen“ nicht positiver konnotiert und eher potenzialorientiert?
Über all diese Fragen hinaus will ich hier auch das Thema der sozialen Ungleichheit, die nicht nur Minderheiten im engeren Sinne betrifft und jede anständige und nicht-demütigende Gesellschaft stark beunruhigen sollte, ansprechen. Soziale Ungleichheit ist zwar zumeist sozioökonomisch bedingt, sie ist aber auch durch eine Marginalisierung in demokratischen Prozessen gekennzeichnet, als eine Form des „Nicht-Vertreten-Seins“ im gesellschaftlichen Diskurs. 
Aktuell bleibt die Fragestellung, ob ein erweitertes Teilhabeverständnis soziale Ungleichheiten mindern könne. Hannah Arendt betont hierzu die besondere Bedeutung einer Tätigkeitsform und umschreibt sie mit dem Begriff Handeln. Diese Tätigkeitsform hebt die Existenz des Menschen im öffentlichen Raum und im Umgang mit anderen Personen hervor. Sie führt uns des Weiteren vor Augen, wie wichtig das Mit-Sein, d.h. „soziale Teilhabe“ für das menschliche Leben ist. Sie fasst es eindrücklich wie folgt zusammen: Im Handeln und im Sprechen offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind. Dabei zeigen sie die Einzigartigkeit ihres Wesens. Die bedeutsame Qualität des Sprechens und Handelns manifestiert sich dort, wo Menschen zu Wort kommen, wo sie gemeinsam etwas tun und sich dadurch geltend machen. Wie oft haben Menschen in unserer Gesellschaft das Gefühl, nicht zu Wort zu kommen oder gar nicht repräsentiert zu sein? Ich will hier an die nicht-repräsentativen und zumeist von der Politik berufenen Interessenvertretungen von Migrant*innen erinnern und die politischen Entscheidungsträger*innen anklagen! Zur Legitimation der Integrationsräte ist ein neues Verständnis von Teilhabe dringend notwendig, das Möglichkeiten und Chancen in den Vordergrund rückt, die jetzt unverwirklicht bleiben, und die im Falle einer gleichberechtigten Teilhabe unsere pluralistische Gesellschaft stark bereichern könnten.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es zunächst sinnvoll wäre anzuerkennen, dass es eine dominante Kultur gibt. Diese dominante Stellung ist grundsätzlich weder gut noch schlecht und muss der Integration nicht unbedingt entgegenstehen. Viel stärker müsste die Frage ins Zentrum gerückt werden, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt unter dieser Prämisse verstärkt und bewahrt werden kann. Zur Verstärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts können vor allem gesellschaftliche Institutionen beitragen, indem sie allen Gesellschaftsmitgliedern gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen. Dies können sie aber erst dann erreichen, wenn sie die Selbstachtung jener Personen wahren und diese nicht demütigen, die auf sie angewiesen und von ihnen abhängig sind. Hierfür sind ein markantes Beispiel die sogenannten Ankerzentren, in denen die Lebensbedingungen unzweifelhaft demütigend sind und die Selbstachtung der Betroffenen erwiesenermaßen nachhaltig unterminieren. In einer anständigen und nicht-demütigenden Gesellschaft, wie sie Margalit konzipiert, hätten solche institutionell bedingten Demütigungen keinen Platz.
So sind gesellschaftliche Institutionen derart zu organisieren, dass sie allen Menschen ermöglichen, gleichberechtigte Teilhabe zu verwirklichen. Daraus folgt zum einen die essentielle Forderung an dieselben, ihre Sprache und Praktiken daran zu messen, ob sie mit der Selbstachtung aller Gesellschaftsmitglieder vereinbar sind. Zum anderen sollen Mitarbeitende in diesen Institutionen für demütigende Handlungen und Sprache sensibilisiert werden. Auf struktureller Ebene ist dafür Sorge zu tragen, dass Menschen erkennbarer Minderheiten in den wichtigeren Institutionen des Bildungswesens und der Wirtschaft gezielt gefördert werden, sodass sich diese gesellschaftlichen Teilsysteme allmählich interkulturell öffnen und somit die Repräsentanz aller herstellen. An öffentliche Schulen und Universitäten sei überdies appelliert, im Rahmen ihrer Lehrpläne, kulturellen Minderheiten mehr Raum zu geben. Darüber hinaus wäre die Reform des Multiple-Choice-Einbürgerungstests, der ein Auswendiglernen voraussetzt und zugleich suggeriert, als gäbe es einen für alle gültigen und homogenen Wertekatalog, unabdingbar. Stattdessen müsste die Form der Wertevermittlung durch eine Art Wertebildung ersetzt werden, bei der der Sinn jener gemeinsamen Werte erarbeitet und somit erschlossen wird. 
Eine derartige Kultur der Anerkennung würde nicht dazu führen, dass sich Parallelgesellschaften herausbilden oder Beliebigkeit entsteht. Diese Gefahr ist weitaus größer, wenn man Minderheiten die Anerkennung verwehrt und Anspruch auf ausschließliche Dominanz erhebt.
Dieser Beitrag möchte nicht als Anklage verstanden werden, er ist vielmehr von der Unbedingtheit eines Bestaunenden darüber geleitet, was ist, und zugleich von einer Vision getragen, was möglich sein könnte!
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