Fluchtgeschichten #3

"Wir wollten eine Perspektive für uns und für unsere Kinder haben"

Gelesen von Véronique Weber-Karpinski
Mein Mann und ich gehörten zum jungen Mittelstand in Ungarn, wir haben beide in Budapest studiert und dort gelebt. Dafür, dass wir die Entscheidung getroffen haben, das Land zu verlassen, gibt es viele Gründe.
Der einfachste ist die Abenteuerlust. Wir waren damals Ende 30 und wollten ausprobieren, ob wir noch fähig sind, einen Neuanfang zu starten.
Es gab aber auch tiefgreifendere Gründe. Mein Mann arbeitete als Manager, ich als Pädagogin, beide waren wir glücklich. Dann bekamen wir unsere Kinder und wir mussten feststellen, dass die Verdienste nicht ausreichen. Mein Mann musste sich zusätzlich selbstständig machen und sowohl abends als auch an den Wochenenden arbeiten, damit wir über die Runden kommen. Dieses Leben war für uns unerträglich: Wir wollten nicht, dass die Kinder praktisch ohne Vater aufwachsen, wir wollten, dass er auch mit uns Zeit verbringt. Wir wollten einfach eine Familie sein. Ich arbeitete ca. 200 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, das tägliche Pendeln war mit dem Familienleben nicht mehr vereinbar. Ich musste diese Arbeit aufgeben. Wir haben bis heute in zentraler Lage in Budapest eine Wohnung, die wir 10 Jahre lang versuchten, auf Vordermann zu bringen, wir haben es finanziell nicht geschafft. Dann verlor mein Mann plötzlich seine Arbeit. Wir hätten unser Leben in Budapest aufgeben und in die Provinz ziehen und uns darauf konzentrieren können, unseren Lebensunterhalt auf einem niedrigen Niveau zu sichern. Aber wir hatten Träume und Pläne und haben mehr vom Leben erwartet, wir wollten eine Perspektive für uns und für die Kinder haben. Ich hatte im kreativen Bereich gute Erfolge und bekam viel Anerkennung. Ich wollte darauf nicht verzichten. Unsere Eltern wohnten viel zu weit weg, um uns bei der Betreuung unserer Kinder zu helfen.
Dazu kamen die politischen Veränderungen. Am meisten hat uns anfangs die Einschränkung der Medien gestört. Wir versuchten immer neutral zu bleiben, weder der einen extremen Seite noch der anderen haben wir geglaubt. Wir versuchten, immer unsere eigene Meinung zu bilden. Die Transparenz in der Politik und in der Wirtschaft ging verloren. Das Gefühl, in Ungarn in Sicherheit zu leben und uns wohl zu fühlen, schwand. Das von der Politik ruinierte Bildungssystem wollten wir unseren Kindern nicht antun. Das Gesundheitssystem wird dort von Tag zu Tag schlechter. Wir machen uns deswegen ständig Sorgen um unsere Eltern. Wir werden auch älter und wollten uns diesen Verhältnissen nicht ausliefern. 
Ich habe eine ungarische Identität, aber eine, die auch eine europäische ist. Die europäischen Werte, die europäische Kultur und der soziale Gedanke in Europa sind uns beiden sehr wichtig.
Wir leben jetzt seit zwei Jahren in Deutschland. Dass die Kinder zweisprachig aufwachsen, ist für sie ein Riesenvorteil und eine wunderbare Sache!
Das Abenteuer fing damit an, dass mein Mann eine Arbeit in Holland annahm. Ich bekam daheim ein Stipendium und konnte kreativ tätig sein, weil die Kinder am Vormittag in der Kita waren. Die von einer Zeitarbeitsfirma organisierte Arbeit war für meinen Mann sehr schwer zu ertragen. Die Unterbringung war unmenschlich, das Arbeitsklima schlecht. Menschen nehmen diese Arbeit an, weil sie zu Hause keine Arbeit bekommen. Sie ermöglichen ihren Familien ein anständiges Leben, sie geben sich aber auf, sie achten nicht auf sich und sind auch dementsprechend ungepflegt und verwahrlost. Dann kam er nach Franken, dort habe ich ihn einmal auch besucht. Wir vereinbarten, solange weiterzumachen, bis er eine Arbeit findet, von der man leben kann und neben der auch ein Familienleben möglich ist. In Ungarn war ein Leben als Familie nicht möglich, hier wollten wir diesen Traum verwirklichen. In Ungarn hätten wir beide acht Stunden am Tag arbeiten müssen, mein Mann mehrere Nebenjobs annehmen müssen. Ich hätte auf meine kreative Selbstverwirklichung ganz verzichten müssen. 
Dann bekam mein Mann eine Arbeit im Allgäu. Er erzählte das erste Mal am Telefon, dass er sich wohl fühle. Die Umgebung ist wunderbar, die Luft ist sauber, er liebt die Sonnenaufgänge dort. Wir lebten zwar in Budapest, sind aber auf dem Land aufgewachsen und lieben die Natur. In Budapest kann man sein Auto jeden zweiten Tag waschen, es hilft nicht. Es wird gleich staubig und dreckig, weil die Luft dementsprechend ist. Hier, im Allgäu, finden wir es bis heute verwunderlich, dass die Autos sauber bleiben. Die Kinder und ich verließen dann ebenfalls Budapest und zogen ins Allgäu. Beide Kinder hatten vorher gesundheitliche Probleme, eine asthmatische Neigung und häufige Schwindelgefühle. Die sind hier innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Das ist auf die saubere Luft und auf die Qualität der Lebensmittel zurückzuführen. In einem Supermarkt in Ungarn bekommt man oft die Qualität, die im Westen nicht verkauft werden kann. Mein Mann erzählte auch, dass er in diesem Betrieb geregelte Arbeitszeiten hat, von 7 bis 16 Uhr und dass seine Arbeit nicht monoton, sondern abwechslungsreich ist. Die Firma experimentiert auch mit den modernsten Technologien.
Wir sind ins Allgäu gezogen. Zuerst hatten wir eine von der Firma gestellte Wohnung mit 30 Quadratmetern. Unterwegs haben wir im Ikea ein Stockbett gekauft, es war ein Symbol für unseren Neuanfang. 
Wir waren überzeugt, dass mein Mann von der Zeitarbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis übernommen wird. Leider passierte das Gegenteil. Die vorgetragenen Argumente, er könne nicht genug Deutsch und er hätte nicht erzählt, dass er eine Familie habe, klangen nicht glaubhaft.
Wir haben bei der Zeitarbeit beobachtet: Die Arbeiter bekommen wenig, die Vermittler viel Geld. In einem normalen Arbeitsverhältnis verdient man mindestens das Doppelte davon. Die Firmen arbeiten die Leute ein. Man würde denken, dass es vernünftig sei, sie dann auch zu behalten. Aber leider ist es so, dass sie immer wieder neue Leute nehmen, die natürlich auch wieder neu eingearbeitet werden müssen. Wahrscheinlich fürchten sie langfristig die Unzufriedenheit der Arbeiter, die wie Sklaven schuften, aber längst nicht entsprechend entlohnt werden. Lieber werden sie rechtzeitig ausgetauscht. Dieses Geschäftsmodell scheint zu funktionieren. Wir fragen uns nur, wie lange noch?
Die Kinder sind hier in den Kindergarten gekommen und wir waren sehr froh, dass der Wechsel bei ihnen überhaupt keine psychischen Probleme verursachte. Wir konnten nach einem halben Jahr in unsere jetzige Wohnung umziehen. Wir hatten, wie so oft, Glück, nach der Wohnungsbesichtigung erhielten wir eine schnelle Zusage. Wir leben auf dem Land, mitten in der Natur, in einem Dorf, das uns sehr gut gefällt. 
Wir erhielten sehr viel Hilfe. Ich kann es kaum erwarten, dass ich etwas davon zurückgeben kann. Diese Hilfsbereitschaft ist für uns unglaublich. In Ungarn kennt man das nicht, deswegen war es für mich auch schwierig, die Hilfe anzunehmen, weil ich nicht wusste, wie man sich in so einer Situation verhalten sollte. Die Leute hier haben uns aufgenommen. Ich sehe in den Augen der Menschen, wer uns ein bisschen misstraut und wer für uns völlig offen ist. Die Offenen sagen oft: Du sprichst aber gut Deutsch. Ich wäre froh, wenn ich soviel Ungarisch könnte. Andere machen sich Sorgen, dass ihre familiären und kulturellen Traditionen verloren gehen, durch die Fremden. Ich habe aber auch oft erlebt, dass aus den Augen dieser Menschen die Sorgen nach unseren längeren Gesprächen verschwunden sind. 
Der Kindergarten, die Schule, der Klassenlehrer, alle sind wunderbar! Wir haben durch die Kinder und durch die Arbeit viele neue Freunde gefunden. Ich habe auch bei den Behörden einen riesigen Unterschied zu Ungarn festgestellt: Dort sitzen müde, ausgebrannte Menschen in ihren Büros, die ihre Arbeit nicht ausstehen können und auf diese Art und Weise selbstverständlich keine Energie haben, anderen zu helfen. Dort sind alle im Minus, was das Lebensgefühl und die Einstellung betrifft. Hier erleben wir oft Hilfsbereitschaft von Menschen, die im Plus sind, ihr Wohlwollen. Und sie lächeln oft. Und das Lächeln ist für uns eine hohe Motivation. Das bedeutet, legen wir los, es wird klappen. Daheim habe ich zum Beispiel beim Bäcker oft schlechtgelaunte Gesichter erlebt, ich wäre oft am liebsten wieder rausgegangen, aber irgendwo musste man seine Lebensmittel einkaufen.
Unser Vermieter half dabei, dass mein Mann eine versicherungspflichtige, normale Beschäftigung bekam. Ich arbeitete anfangs in einem Minijob, jetzt habe ich auch ein normales Arbeitsverhältnis in Teilzeit. Wir beide werden in unserer Arbeit akzeptiert und fühlen uns wohl. Ich habe wunderbare Kolleginnen. Dank der Stimmung ist die Arbeit absolut stressfrei. Es ist trotzdem nicht leicht zu akzeptieren, dass ich mit meinem Diplom, mit meinen erstklassigen Arbeitszeugnissen und mit meinen anerkennenden Auszeichnungen im kreativen Bereich als Putzfrau arbeiten muss. Deswegen hatte ich letztes Jahr auch depressive Zustände bekommen. Der existenzielle Fall war einfach viel zu groß! Wenn um einen alles zusammenbricht, verliert man auch seine Kreativität. Das Schicksal einer Frau, die wegen den Kindern ihr Berufsleben unterbricht, ist bei mir mit dem Schicksal einer Auswanderin verbunden. Ich wollte immer lernen, mich weiterentwickeln und wollte immer kreativ bleiben. Ich habe das Ziel, eine Arbeit zu finden, in der ich sagen kann: Das ist meine Welt, hier kann ich meine Begabungen optimal einsetzen. Deswegen versuche ich auch die Sprache besser zu lernen und meine Abschlüsse anerkennen zu lassen. 
Andererseits bin ich sehr dankbar, dass wir hier leben können, ein Familienleben haben und die Hoffnung, dass es noch besser werden kann. Ich bin nur ein bisschen ungeduldig, es könnte auch schneller gehen. Die Hälfte unserer Herzen gehört noch Ungarn. Wir lesen die Nachrichten jeden Tag und diese machen uns sehr traurig. Aber sie geben uns auch die Bestätigung: Unsere Entscheidung war richtig!

Das Interview am 25.11.2018 von Lajos Fischer aufgenommen.
 

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