Fasten für Fremde

"Fasten für Fremde" - 1990

Die unerträglichen Lebensbedingungen von Asylbewerbern sorgten in Kempten immer wieder für leidenschaftlich geführte Diskussionen. 1989 und 1990 stand die Kritik an den Lebensmittelpaketen im Fokus des Diskurses. Ab Dezember 1989 verweigerten etwa 200 Menschen in den Sammelunterkünften die Annahme der von der Regierung gelieferten wöchentlichen Lebensmittellieferungen. Die Initiative "Fasten für Fremde" nutzte die Fastenzeit vor Ostern, um auf das Schicksal der Asylbewerber aufmerksam zu machen, indem etwa 50 ihrer Mitglieder sechs Wochen lang versuchten, sich aus diesen Lebensmittelpaketen zu ernähren. Ihre Erfahrungen teilten dann in einem Brief Dr. Gebhard Glück, dem bayerischen Staatsminister für Arbeit und Soziales, am 16.05.1990 mit:

Sehr geehrter Herr Dr. Glück!


Die gesamten 6 Wochen der Fastenzeit 1990 haben etwa 50 Bürgerinnen und Bürger aus Kempten, aufgerufen durch den Verein Solidarität Dritte Welt Kempten e.V. und die katholischen und evangelischen Gemeinden Kemptens, die Situation der Asylbewerber erfahren, indem sie sich von deren zugeteilten Lebensmittelpaketen ernährten. Als Teilnehmer dieser Aktion müssen wir Ihnen unsere dabei gemachten Erfahrungen mitteilen, denn die bisher in Bayern geübte Praxis der Verpflegung der Asylbewerber durch Paketzustellung schreit nach einer Verbesserung! Wir können uns nicht vorstellen, dass diese Zustände von Ihnen ernsthaft vertreten werden sollten.


Zu Beginn des 6-wöchigen Paketturnus konnte fast nichts zubereitet werden, weil jegliche „Koch-Grundausstattung“ (Gewürze, Öl, …) fehlte. Die wöchentliche Anlieferung „bescherte“ uns jeweils die ersten drei Tage den Zwang (!), mit leicht verderblichen Waren wie Fleisch, Gemüse und Obst Essen zu bereiten, die restlichen 4 Tage dann sehr mager zu darben: Denn selbst in einem Haushalt nach westdeutschem Standard kann aufgetautes Gefrierfleisch nicht lange aufbewahrt bleiben – und in der Sammelunterkunft sind Gefriertruhen nicht einmal vorhanden. Das Gefrierfleisch war, sofern überhaupt mit einem Verfallsdatum versehen, nicht nur einmal bereits monatelang über diesem Termin gelagert, Qualitätsangaben fehlten gänzlich. Insofern muss hier eindeutig von minderwertigen Lebensmitteln gesprochen werden.


Das ebenfalls einmal in der Woche angelieferte Brot stellte vor das Problem, es trocken werden zu lassen oder auf den Schimmelbefall zu warten. Eine Lösung bietet bei der angebotenen Qualität nur das (den Asylbewerbern nicht mögliche) Einfrieren.


Das ausgelieferte Obst war auf den ersten Blick äußerst lecker, die Auswahl scheint jedoch deutlich vom Interesse des Händlers gelenkt zu sein, leicht verderbliche Ware wegzubringen. Wie wäre es sonst erklärbar, dass unter dem Aspekt der Preisgünstigkeit saisonbedingt teuerstes Obst (im Februar Erdbeeren, im März südafrikanische Birnen, im April Orangen – ebenfalls vom Cap) die Pakete bereicherte?


Im Vergleich zum staatlichen Einkauf scheint unser Umweltbewusstsein meilenweit voraus zu sein. Selbst bei einem niedrig kalkulierten Einkauf sollte das Gemeinwohl (Begrenzung des Müllberges) gegenüber dem Preisdenken eine Rolle spielen. Dem Umweltminister müsste bei dieser Verpackungsflut und dabei nie verwendeten Mehrwegverpackungen die Entrüstung sofortiges Handeln diktieren.


Die bayerische Praxis, den Asylsuchenden ein wöchentliches Lebensmittelpaket zuzuteilen, empfinden wir als diskriminierend. Das Recht und die Freiheit, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen, gehört in unserer Gesellschaft zur Würde eines mündigen Menschen. Lebt man ausschließlich von diesen Essenspaketen, fehlt nach unserer eigenen Erfahrung eine wichtige Möglichkeit zu zwanglosen sozialen Kontakten. Die Isolation der Asylsuchenden ist dadurch vorprogrammiert, zumal sie schon durch die Sammelunterkunft und das Arbeitsverbot ghettoisiert werden. Nicht zuletzt solcher Zwang zur Untätigkeit führt zu so außergewöhnlichen Belastungen, dass immer wieder Asylsuchende psychiatrische Behandlung brauchen.


Uns ist durch das 6-wöchige Fastenessen bewusst geworden, dass unser Staat den Asylsuchenden ein Leben aufzwingt, das Vorurteile bestärkt („sie arbeiten nichts, sie werfen Lebensmittel weg, sie lassen es sich auf unsere Kosten gut gehen…“). Deshalb halten wir eine neue Politik, die mehr Menschlichkeit bewirkt, für zwingend nötig.


Bei unserer Tauschaktion wurden für ein Lebensmittelpaket 45,- DM angesetzt. Wir gehen davon aus, dass für den gleichen Betrag qualitativ bessere Lebensmittel gekauft werden können. In diesem Zusammenhang interessiert es uns als Steuerzahler, wie sich die Kosten der Paketversorgung zusammensetzen, speziell auch wie hoch sich der Kostenfaktor der Organisation, Verwaltung und Verteilung rechnet.


Wir wehren uns dagegen, die Asylsuchenden pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge abzustempeln, indem politisch, ethnisch oder religiös Verfolgte von Maßnahmen betroffen sind, die auf Bewerber mit asylfremden, d.h. wirtschaftlichen Gründen zielen. Unsere Erfahrungen während dieser Aktionswochen bestätigen uns in der Überzeugung: die Versorgung mit Lebensmittelpaketen ist – auch zusammen mit anderen restriktiven Maßnahmen – kein Mittel, um Asylsuchende von unserem Land fernzuhalten. Wir meinen außerdem, dass auch nackte Existenzangst Grund genug ist, alle Bindungen an die Heimat aufzugeben und in der Fremde bei uns einen Neuanfang zu versuchen.


Wir sind der Meinung, dass es an der zeit ist, die Lebensumstände der Asylbewerber erneut im Landtag zu behandeln, nachdem die letzte Entscheidung hierzu bereits 1987 getroffen wurde und andere Bundesländer inzwischen bewiesen haben, dass auch menschlichere Auslegungen des Bundessozialhilfegesetzes möglich sind.


Bitte bedenken Sie: Wir haben die Situation der Asylbewerber nicht nur diskutiert, sondern sie für eine begrenzte Zeit in einem begrenzten Teil wirklich erfahren! Mit erwartungsvollen Grüßen!

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